Wie kann man sich geschmackvoller, sinnlicher und eindringlicher mit der Ostmoderne in Chemnitz vertraut machen als mit der Chemnitzer Platte? Wir können uns kaum einen genussvolleren Weg vorstellen.
Der graue Betonkeks hat mittlerweile Kultstatus erreicht, wird als Signature-Gebäck der Stadt geadelt und ist sogar vegan. Doch, wer hat die Chemnitzer Platte erfunden? Seit wann gibt es sie? Und, welche Städte, Länder und Erdteile hat die Kulturbotschafterin der Chemnitzer Ostmoderne eigentlich bisher bereist? Wir werden nicht alle Fragen restlos klären können, doch eins steht fest, kaum einer kennt sie nicht, die Chemnitzer Platte.

Selten hat ein Regionalgebäck eine solche Fülle an Rezeptvariationen hervorgebracht wie die Chemnitzer Platte. Wenn man den Überlieferungen Glauben schenken darf, fand das Gebäck im Wohngebiet Fritz Heckert einst auf jeder gut sortierten Tafel seinen Platz.

Das optisch dem Beton nachempfundene Backwerk soll sich in den 1970er und 1980er Jahren großer Beliebtheit erfreut haben, insbesondere zu Kindergeburtstagen, Hochzeiten und Jugendweihen. Die Rezepte hat man laut älterer Bewohner:innen des Fritz Heckert-Gebiets vor allem mündlich weitergegeben, innerhalb der Familien, von Hausgemeinschaft zu Hausgemeinschaft.
Eine ältere Frau will Fernsehkoch Kurt Drummer mit einem Heckert-Kuchen in einer seiner Sendungen gesehen haben. Naja, Schwarz-Weiß-Fernsehen. Tatsächlich finden sich einzelne Seiten aus Kulinarik-Magazinen der DDR, in denen so etwas Ähnliches wie die Chemnitzer Platte abgebildet scheint.


Mit der Wende verliert sich die Spur. Ostdeutsche Backmagazine wurden eingestellt, das Fernsehen der DDR existiert nicht mehr und im Fritz Heckert-Gebiet veränderte sich die Bevölkerungsstruktur. Die Platte schien verschwunden.

Musste die Chemnitzer Platte zweimal erfunden werden?
In gewisser Hinsicht schon. Die prominentesten Bäcker:innen der Platte sind heute zweifelsohne Beate Düber und Jan Kummer. Sie haben den Mythos aus der Versenkung gehoben, ihn mit Leben gefüllt, Aufrufe gestartet, nach längst verschollenen Rezepten geforscht, einen neuen Look und ein neues Branding für das sagenumwobene Traditionsgebäck entworfen. Heute wird die Platte im haptisch ansprechendem Pappkarton mit Grußkarte und Seidenpapier überreicht.
Der Keks selbst ist mittlerweile auch genormt, zumindest in seiner Kubatur. Pate für die neue Form stand eine WBS 70-Außenwandplatte, die im Maßstab 1:30 ins Kulinarische überführt wurde. Sicherlich eine Remineszenz an die vermuteten Ursprünge des Gebäcks im Plattenbaugebiet Fitz Heckert.

Beate, warum die Chemnitzer Platte?
Mit der Ausrufung des Titels der Europäischen Kulturhauptstadt überkam mich seltsamerweise ein bis dahin ungekanntes Gefühl von Verantwortung, deshalb war die Idee zur Chemnitzer Platte weniger eine Idee, als vielmehr eine Pflicht, denn jetzt waren wir Kulturhauptstadt und wir hatten kein Regionalgebäck.
Viele Städte können mit einem sogenannten Regionalgebäck aufwarten, es gibt die Lübecker Nusstorte, die Schwarzwälder Kirschtorte, die Leipziger Lerche oder den Frankfurter Kranz. Was also sollte es für Chemnitz sein? Die Tradition in bescheidener Form pflegen, wie die meisten Städte es tun, oder die königliche Vergangenheit in geballter Sahneform zelebrieren wie Frankfurt/Main mit seinem Kranz?
Dieser Kranz, eine nicht zu überbietende Angeberei, die an eine Königskrone erinnern soll, verziert mit goldglänzendem Krokant und rubinfarben schimmernden Kirschen, als Reminiszenz an die einstige Frankfurter Krönungsstadt. Das schien mir zu dick aufgetragen und so etwas hatten wir eh nicht zu bieten. Da ist einem die Leipziger Lerche schon lieber, lässt sie doch auf eine gewisse Findigkeit schließen, wenn sie als süßer Ersatz für die im 19. Jahrhundert verbotene Lerchen-Pastete erdacht wurde.
Für Chemnitz sollte es auf jeden Fall etwas Ehrliches sein, etwas, dass die Stadt ausmacht und die Möglichkeit bietet, über sie zu sprechen. Warum nicht an die alte Tradition des Chemnitzer Platte-Backens anknüpfen? Und, weil der Plattenbau bis heute so schlecht beleumundet ist, steht die Chemnitzer Platte symbolisch auch für alles, worüber Städte lieber nicht sprechen wollen und sich stattdessen mit einer kalorienbombigen, mehretagigen Sahne-Krone präsentieren.
Und nicht zuletzt, welche Stadt hätte wohl den Mumm, mit eßbarem Beton für sich selbst zu werben?

Wie fruchtbar die (Neu-)Erfindung war, ja, wie verwurzelt Bewohner:innen und Liebhaber:innen mit ihrem Regionalgebäck auch heute noch sind, zeigen Grußbotschaften und die beiden Künstler:innen.


Der Besuch der Leipziger Lerche war erst der Anfang.
Die Chemnitzer Platte hat die wunderbare Eigenschaft, ihr Dasein als Regionalgebäck zu erweitern und hinaus in die Welt zu ziehen. Als Botschafterin der Chemnitzer Ostmoderne bereist sie Städte, Länder, Erdteile und bringt die Menschen zusammen.








Das alles hat Sie ein wenig verwirrt, aber neugierig gemacht. Kein Problem, die Antworten auf alle Ihre Fragen finden Sie in diesem Buch.

#Chemnitzer Platte
Beate Düber, Jan Kummer
Konzeptkunst
Text
Auszüge aus dem Buch zur „Chemnitzer Platte“ von Beate Düber und Jan Kummer,
Bestellung: post@institut-ostmoderne.de



