Kapitel 1
Kugelschreiber auf Ansichtspostkarten. Mit der 31-teiligen Zeichenserie K-M-S greift der Berliner Künstler und Psychoanalytiker H. Frank Taffelt Verlust, Verschwinden und Potentiale der Chemnitzer Ostmoderne auf. Transparent changierende Schwarzfelder, die Schichtungen des Kugelschreibers, gewähren schemenhafte Rückblicke, überlagern, absorbieren und akzentuieren die ehemals intendierte Ordnung des Raums. Gewollte Ansichten werden verdrängt. Was bleibt sind fragmentarische Zusammenhänge von Architektur und Raumtypologie.
Kapitel 2
Die Kunst des Verschwindens. Im folgenden Essay reflektiert H. Frank Taffelt das Phänomen Verschwinden in seinen konstitutiven Aspekten, zunächst als Verlust, Kalkül und Erkenntnis, abschließend als Ermächtigung, womit er die Zeichenserie K-M-S in eine psychoanalytische Denkspur einbettet.
Kapitel 1. Kugelschreiber auf Ansichtsposten































Kapitel 2. Die Kunst des Verschwindens
Verschwinden als Verlust, Kalkül, Erkenntnis und Ermächtigung
Widerfahrnis 1.
Verschwinden als Verlust
Vor einigen Wochen wurde eine Freundin mit einem Verlust konfrontiert. Es ist etwas aus ihrem Leben irreversibel verschwunden. Ein Blackout.
Ich habe ihr eine Postkarte, auf der ich große Teile der Ansichtsseite unter schwarzen Kugelschreiberschichten habe verschwinden lassen, geschickt. Ein banaler Versuch, in einfachster Form das ihr Widerfahrene zu symbolisieren. Nach einiger Zeit erfuhr ich von ihr, dass sie sich daran gemacht habe, die Kugelschreiberschichten abzutragen. Akribisch, das Verschwinden nicht akzeptierend, in geradezu archäologischer Manier das Verschwundene, Verdeckte, Überzeichnete wieder freilegend. Das zu einem UNDING Entschwundene wieder in ein DING ihrer natürlich wahrgenommenen Welt zu wandeln.
Ein Bemühen, dem unwiederbringlichen Verlust zu widerstehen, etwas entgegenzusetzen, die Black Box zu öffnen. Eine Art Trauerarbeit am Kunstobjekt. In gewisser Weise funktioniert so Erinnerung, Arbeit an der Erinnerung. Hinter einer immer diffuser werdenden Zeitschicht schreiten die Unschärfen des Erinnerns fort. Es braucht Anlässe, die den ins Auratische entschwindenden Bildern und Worten folgen. Mit der Intention, deren emotionale und kognitive Unschärfen aus veränderten Perspektiven wieder scharfzustellen.
Blackout-Ästhetik.
Verschwinden als ästhetisches Kalkül
Seit 2009 überzeichne ich Ansichtspostkarten mit schwarzer Kugelschreibertinte und versende diese per Post (Mail Art). Unter den tiefschwarzen, je nach Zeichengrund matten, glänzenden oder spiegelnden Oberflächen der gezeichneten geometrischen Formationen verschwinden die Bilder und Worte der Ansicht.
Ausgedrückt in Begriffen, die Sigmund Freud zur Unterscheidung von unbewusstem und bewusstem Denken benutzte, wird in einem solchen substitutiven Procedere, worauf schon Harry Cooper (1999) verwies, der Primärprozess der Linie und Farbe dem Sekundärprozess von Wort und Bild vorgezogen. Die in diesem minimalistischen Zeichenstil, dieser bild- und wortarmen Ästhetik bearbeiteten Postkarten bringen unmissverständlich zum Ausdruck: Wo Bilder und Worte sind, sollen Linien, Form und Farbe sein!
Die Überzeichnung lenkt den Blick von der Ansicht der Postkarte ab. Die schwarzen Interventionen des Kugelschreibers treten in den Vordergrund. Das Verdecken der Motive irritiert und verzögert die Abläufe des Sehens, Wahrnehmens. Verdecken, Ablenken und Verzögern sind alle raum-zeitliche Strategien des Erotischen. Das Kalkül des Verdeckten, Halbverdeckten erzeugt eine auratische, geheimnisvolle Atmosphäre.
Durch die Substitution von Bild und Wort durch Linie, Form und Farbe wird die Ansicht in einer anderen Weise erlebt. Eine ästhetische Dynamik, die dem der Oberfläche, dem Oberflächlichen verhafteten Blick stört und einen tieferen Blick in Bezug auf das Verschwundene, unsichtbar Gewordene herausfordert. Byung-Chul Han (2021) nennt die der Repräsentation zugewandte Seite die Phänoschicht, die ihr abgewandte die Genoschicht eines Kunstwerks.
Dieser Ästhetik wohnt die Behauptung inne, dass durch das Verschwindenlassen der Betrachter in ein Fort-Da-Spiel involviert wird. Ein Spiel, das eine auratische Erregung, ein auratisches Sehen anstößt, das das Verschwundene anders sehen und denken, anders wiedererscheinen lässt.
Paul Virilio (1980) deklariert, dass das Sichtbare durch das Unsichtbare konstituiert wird. Er rückt das, was nicht (mehr) sichtbar ist, in den ästhetischen Vordergrund. Leerstellen, Auslassungen und das Verschwinden werden zu tragenden Prinzipien künstlerischer Formgebung.
Mail Art, als soziales und politisches Medium, versteht sich auch als Denk-Art. So trägt eine Mail-Art-Aktion von Robert Rehfeld aus den 1980er Jahren den Titel Ich sende Ihnen einen Gedanken zu. Bitte denken Sie ihn weiter. Die zentrale Botschaft ist eine Einladung zur Kollaboration und kritischen Auseinandersetzung. Rehfeld wollte nicht, dass das Gesehene in eine gedankliche Rezeption, sondern in etwas darüber hinaus mündet.
Auf der überzeichneten Postkarte verschwinden Bild- und Textteile unter geschichteten Kugelschreiberlinien. Durch das Verschwinden wird eine geheimnisvolle, rational kaum fassbare Atmosphäre erregt. Die Wahrnehmung wird irritiert, das Terrain des Vertrauten gerät ins Wanken, die eingeübten Wahrnehmungsoberflächen werden in die „Tiefe“ gezogen. Aus vertrauten Dingen werden – unter dem geschichteten Schwarz – lichtlose UNDINGE. Das bewusste Sehen gerät in die Sphären unbewusster Grenzüberschreitungen, Grenzgänge. Es ist nicht mehr klar, was es zu sehen gibt. Vielleicht etwas jenseits der Oberflächen. Vielleicht etwas in einem selbst. Die Tradition vertrauter, konservativer Wahrnehmungsgepflogenheiten beim Betrachten einer Ansichtspostkarte wird unterlaufen.
Das Verschwinden vertrauter, liebgewordener Dinge, Objekte und Rituale erzeugt Irritationen. Vielleicht Sehnsucht, vielleicht Verzweiflung. Es mobilisiert regressive Kräfte, die rekonstruieren, reinszenieren, festhalten wollen. Durch das Verschwinden gerät aber auch eine magische Kraft in Bewegung, die mit Ungewissem, scheinbar unerklärlichen Dingen und erstaunlichen Intentionen in Berührung bringt. Eine Kraft, die beunruhigt, erweckt, verführt. Für Roland Barthes (1989) gehört die Verhüllung wesentlich zum Erotischen. Das unter einer Hülle verschwindende, verschwundene Objekt entzieht sich dem unverstellten, direkten (pornographischen) Blick. DasVerdeckte, Halbverdeckte erzeugt den verführerischen Glanz, die Magie des Geheimnisvollen und sorgt für einen Sog unbewusst, vorbewusst intendierter erotischer Atmosphären.
Sich darauf einlassen zu können, bedeutet, anders zu sehen. Anderes wahrnehmen zu können. Anderes in der Welt, an und in sich selbst zu entdecken, aufzudecken.
Ästhetik des Fragments.
Verschwinden als Erkenntnis
Durch die Kugelschreiberinterventionen werden die Ansichtspostkarten zu zerfallenden Informationsträgern. Die Bildfülle wird fragmentiert. Dass ästhetische Feld der Wahrnehmungen neu strukturiert. Das derart verformte, reduzierte Material fällt der Kunst der Andeutungen und Assoziationen anheim. Vernutze Ansichten. Asemantische Textreste.
Die Ansichten der Postkarten handeln vom Entrinnen der Zeit, von den Bildern früheren Lebens in Karl-Marx-Stadt. Mit anderen Worten: Sie handeln vom Gedächtnis, von der Melancholie angesichts verschwundener Gegenwart. Durch die Überzeichnungen wird die nostalgisch regressive Atmosphäre konterkariert. Es mag als Reinszenierung des Verschwindens anmuten, aber durch das zeichnerische Intervenieren wird eine Form geschaffen, in der aus dem Verlöschten, Verschwundenen, aus den Fragmenten wieder Neues entstehen kann. Neue, andere Räume. Für neue, andere Perspektiven, Geschichten. Ohne dem Irrglauben zu verfallen, das Vergangene (Verlorengegangene), Verschwundene rekonstruieren zu können und sich darin „selbst“ wiederzufinden bzw. wieder einzurichten.
Das Sehen verlagert sich vom natürlichen hin zu einem verstellten Blick. Das beschauliche althergebrachte Verweilen an den Oberflächen der Ansichten wird gebrochen. Das hinter der schwarzen Leere Befindliche muss anders in „Augenschein“ genommen werden. Das Fragmentierte kann die Aura des Verschwundenen derart beleben, dass das Erinnern – jenseits bloßer Nostalgie – in die „Tiefe“ geschärft wird. Es kann in Untiefen führen, Undinge bergen, neugierig auf die Welt hinter der Finsternis der schwarzen Oberflächen machen. Ein Anstoß, Fortsein in ein anderes, tiefgründigeres Dasein zu verwandeln, zu transformieren.
Das Sehen, Wahrnehmen des vernetzten Menschen droht, wenn es nicht im Konservativen Zuflucht sucht, von der Unmenge postmoderner Bilder und Informationen überflutet zu werden. Das Sehen jagt von einer Oberfläche zur nächsten. Die Wahrnehmung wird von Simultaneität gehetzt. Der Augenschein verführt, wenige phänotypische Eindrücke genügen, um das Gefühl zu haben, das alles schon zu kennen, schon gesehen zu haben. Ein kaum zu stillender visueller Hunger. Ein Hunger nach visuellen Sensationen, nach dem Noch-nicht-Gesehenen. Kein Verweilen. Kein kontemplatives Innehalten.
In diesem atemlosen Geschehen kann im Glanz der Kugelschreiberoberfläche die Betrachtung der unscharfen Kontur des eigenen Bildes zum bestimmenden Sehhorizont werden. Um den Zumutungen der Wirklichkeit zu entgehen, wird ein Eskapismus ins narzisstische Selbst angetreten.
Die Kugelschreiber-Interventionen lassen Bilder und Worte unter der achromatischen Farbe Schwarz verschwinden. Schwarz ist die Abwesenheit von Licht. Die Oberfläche der Nichtfarbe Schwarz absorbiert alle Lichtwellen. Das Licht wird nicht reflektiert, sondern entschwindet und mit ihm verschwinden alle darunterliegenden bildlichen und sprachlichen Symbole. Deren Existenz gerät in den Sog metaphysischer Präsenz und Repräsentation. Das absorbierte Licht bringt das Verschwundene anders zum „Leuchten“. Ein derart erleuchteter Blick kann potentielle Räume der Phantasie, freischwebender Aufmerksamkeit und Assoziation auftun.
Dieses Unterfangen folgt der Intention, durch eine Ästhetik des Fragmentierens und Verbergens, durch die Kunst der Andeutungen und Assoziationen das Sehen erotisch zu besetzen, zu innervieren. Den Betrachter nicht zum Rezipieren, sondern zu einem anderen Sehen, Denken, Erinnern zu verführen. Ihn zum Sehenden zu machen. Verhüllen, Verdecken, mit Schwarz Überzeichnen als auratische Interventionen des Verschwindens, um das erotische Sehen, den anderen Blick zu intendieren, zu ermutigen. Ein Sehen in die „Tiefe“. Ein Tiefensehen, das den Horizont des Wahrnehmens der äußeren Wirklichkeit überschreitet. Ein Sehen, das versucht, jenseits der Oberflächen, „hinter“ die Dinge zu sehen, in unsichtbare, unbewusste Terrains vorzudringen. Untiefen auszuloten.
Widerfahrnis 2.
Verschwinden als Ermächtigung
Die Kehrseite des Verschwindens, Verschwindenlassens ist die des Erscheinens, Erscheinenlassens.
In „Jenseits des Lustprinzips“ (1920) schildert Freud, wie ein elfeinhalbjähriger Junge spielerisch den Wechsel zwischen An- und Abwesenheit seiner Mutter verarbeitet (Fort-Da-Spiel). Durch das sprachlich begleitete Verschwinden („fort“) und Wiederkommenlassen („da“) einer Holzspule, versucht er, den Verlust des Objekts und dessen Rückkehr symbolisch zu meistern. Der Junge verwandelte die unglückliche Situation der Abwesenheit in eine glückliche Situation, in der er die Kontrolle über die Rückkehr hat. Es ist eine Art, die Angst vor dem Verlassenwerden zu bewältigen. Das Spiel zeigt, wie ein Kind durch symbolische Handlungen eine grundlegende Entwicklungsherausforderung – vielleicht ein Trauma, nämlich die Angst vor dem Allein- und Getrenntsein – verarbeitet. Das Fort-Da-Spiel ist damit ein Symbol für die Verarbeitung von Trennungs- und Verlusterlebnissen und hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Entwicklung der menschlichen Subjektivität und die Fähigkeit, mit Trennung und Verlust umzugehen.
Zurück zu meiner Freundin. Sie versucht, den Blackout in etwas Aushaltbares zu wandeln: Wo tiefe Dunkelheit ist, soll Helles, Helligkeit sein! Vielleicht einhergehend mit der wachsenden Erkenntnis, dass ein evidentes Erscheinenlassen des Verschwundenen vergeblich ist.
Das unter den gezeichneten Schichten Entschwundene, wahrt sein „Geheimnis“. Es erscheint nicht. Auch wenn das Schwarz abgetragen ist, bleibt es eine Black Box. Es gibt keine Enthüllung, keine finale Wahrheit. Auch die „weiße Leere“ stellt sich unausweichlich als Geheimnis, als UNDING dar. Als ein unwiederbringliches Verschwinden – in den Realitäten des Lebens wie der Kunst.
Das UNDING ist ohne Evidenz, ohne Wahrheit. Es ist eine „Wirklichkeit“, in der unsere vertrauten Instrumente der Kognition, Logik und Aufklärung weitestgehend stumpf bleiben. Das Phänomen will in seiner auratischen, „magischen“ Existenz erkannt, akzeptiert werden und lässt sich letztlich nur in Vorstellungen, Phantasien – jenseits der Anschauung – repräsentieren, erinnern. Das Verschwundene, Unsichtbare kann nur anders, in etwas Anderem, das nicht auf den natürlichen Blick angewiesen ist, wieder erscheinen, „sichtbar“ werden. Zu einer derartigen Anschauung des Unsichtbaren als Geheimnis gelangt man aber nur durch die Anerkenntnis des Verschwindens als solches. Unerheblich, ob es existentiell oder artifiziell ist. Man muss sich vor allem der Art des Verschwindens zuwenden, um das Verschwundene anders, neuzu erkennen.
Literatur
Barthes, Roland: Die helle Kammer. Frankfurt am Main 1989.
Freud, Siegmund: Jenseits des Lustprinzips, in: Freud, Siegmund: Psychologie des Unbewussten, Studienausgabe Band III, Frankfurt am Main 1975, S. 213-273.
Han, Byung-Chul: Undinge. Berlin 2021.
Cooper, Harry: Intensive Unabhängigkeit: Line Form Colorvon Ellsworth Kelly, in: Harvard University Art Museums (Hrsg.): Ellsworth Kelly: Line Form Color, Cambridge 1999, S. 3-24.
Virilio, Paul: Ästhetik des Verschwindens. Berlin 1986.
#K-M-S [01-31]
H. Frank Taffelt
Serie von 31 Ansichtspostkarten, 2025
Kugelschreiber auf Ansichtspostkarten
Essay Die Kunst des Verschwindens, 2025
Einführungstext
Felix Richter



